„Macht unsere Bücher billiger“
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt brachte das Taschenbuch nach Deutschland: Am 17. Juni 1950, mithin vor 75 Jahren, wurden die ersten Rotationsromane mit dem bunten Pappeinband und dem farbigen Leinenrücken ausgeliefert.
Die erste Liebe entflammte in der Tertia. Der Lesehunger war groß, das Taschengeld knapp, und so befriedigten die Ramschkisten der Antiquare unsere literarischen Obsessionen. Dort war die erste Taschenbuchgeneration zwischengelagert, nachdem ihre Vorbesitzer in die Hardcover-Klasse aufgestiegen waren. Jedes einzelne Stück trugen wir selig nach Hause: Gorkis „Mutter“, Tucholskys „Schloss Gripsholm“, Hemingways „Fiesta“, Brechts „Kalendergeschichten“. Der Vorreiter für das Konzept „Lesefutter für alle“ war Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, der Verlegersohn, der die Idee des preiswerten Taschenbuchs nach dem Krieg aus den USA mitgebracht hatte. Die rororo-Taschenbücher, die zwischen 1950 und 1961 erschienen, zeichneten sich durch außergewöhnliche Einbandgestaltung, Rotationsdruck und Klebebindung, einen niedrigen Preis und den farbigen Leinenrücken aus. Vor allem die Covergestaltung von Karl Gröning jr. und Gisela Pferdmenges in den ersten zehn Jahren der Reihe hat mich angeregt, die Bücher zu sammeln. Auf meinen #meinschreibtisch-Kanälen auf instagram und Facebook öffne ich seit einiger Zeit in unregelmäßigen Abständen meinen Bücherschrank und stelle nach und nach alle 450 Titel dieser Reihe vor.
Hochdruck
Aufgewacht
den Mund voll Honig:
Room-Service der Linden
von der nahen Allee
Zwei Amseln batteln sich
wer wohl am besten sänge
von den Dächern
und Schornsteinen
Unentschieden
Sonnenstrahlen auf dem
Kalenderblatt:
Frühstück im Grünen
Das Hoch heißt Josy.

Hilf mir, Jim!
Ich, grimmig:
Ski im Firn in Ischgl ist mit mir nicht drin.
Schrill klingt Sissi:
Ski in Ischgl? Bist irr?
Wir sind mit ihr im Schiff im Mississippi!
Bin ich wirklich irr?
Ich, mit ihr, im Mississippi?
Sissi ist listig; spricht:
Iss, Kind, ’s ist Risi-Pisi!
Singt: Trink Gin mit mir!
Schrillt: Nimm mich!
Im Mississippilicht ist Sissi wirklich schick
in ihr’m Mini-Bikini …
Irrwitzig schick.
Sissi will mich, will mich nicht,
will mich, will mich nicht.
Will mich.
Sissi, wild: fick mich!
Iiiiiiiii!
Ich bin mit Sissi nicht intim,
bin nicht fit, bin kitzlig, bin gichtig, bin mickrig, bin frigid;
bin wirklich klinisch irrsinnig wirr – ich will nicht!
Sissi wird giftig, spricht:
Wicht – gibt’s nicht gibt’s nicht!
Wirft mich hin im Mississippischiff.
Hilf mir, Jim!
Der Engel
Ich kenne ein Gasthaus, das heißt Goldener Pflug. Sie machen dort einen prima Hackbraten mit Pilzsoße. Ich komme an jedem Donnerstagabend in den Goldenen Pflug. Dann setze ich mich an einen der Tische, die am Fenster stehen.
Ich esse den Hackbraten und kann dabei aus dem Fenster sehen. Ich schaue auf die große Kreuzung, dort fahren Tag und Nacht Autos und Lastwagen und Busse.
Auch wenn ich meinen Teller leergegessen habe, kann ich dort sitzenbleiben und hinausschauen. Ich liebe besonders die Lichter: die weißen Scheinwerfer, die gelben Blinker und die roten Rücklichter. Manchmal kracht es auf der großen Kreuzung. Dann leuchtet es auch blau, das ist die Polizei.
Draußen auf der großen Kreuzung ist immer etwas los, aber hier drinnen habe ich meine Ruhe.
Ich bestelle einen Hackbraten oder ein Schnitzel. Manchmal bestelle ich auch eine Bratwurst, die ist auch immer gut, oder auch nur einen Teller mit Pommes. Und ein Bier. Und vielleicht später noch ein Bier. Ja, und einen Schnaps.
Der Wirt heißt Heiner und die Bedienung Renate. Heiner kennt mich und Renate kennt mich auch. Beide wissen auch, wie ich heiße. Guten Abend, Arnim, so begrüßen sie mich. Dann kommt Renate an den Tisch. Sie sagt zum Beispiel: Heute gibt es frische Maultaschen. Dann nehme ich die Maultaschen, denn die sind hier auch sehr gut.
Ich lasse mir das Essen schmecken, ich schaue aus dem Fenster. Und ich höre zu, was die Leute an den anderen Tischen sprechen. Ich verstehe nicht alles, was sie sprechen, dann stelle ich mir halt vor, was sie gesagt haben. Das ergibt immer eine kleine Geschichte. Es ist nicht schlimm, dass die Leute vielleicht etwas anderes gesprochen haben, denn ich mache, dass es den Leuten in meinen Geschichten gutgeht. Wahrscheinlich geht es den Leuten in Wirklichkeit nicht so gut. Oft wird es laut an den anderen Tischen und die Leute machen böse Gesichter. Mir geht es auch manchmal schlecht. Aber nicht so schlecht, dass ich ein böses Gesicht mache.
Renate macht immer ein fröhliches Gesicht. Sie stellt meinen Teller und mein Glas vor mich hin und lächelt. Sie sagt Bitteschön!, wenn sie den Teller und das Glas hinstellt, und Dankeschön!, wenn ich ihr den leeren Teller reiche. Über Renate habe ich mir noch keine Geschichte ausgedacht. Renate ist halt einfach Renate, die Renate mit dem Schnitzel und dem Bier. Wenn Renate an meinen Tisch kommt, dann geht es mir gut.
Letzten Donnerstag bin ich auf der Bank an der Haltestelle vom Bus eingeschlafen. Ich bin wieder aufgewacht, da war es im Goldenen Pflug schon dunkel. An der Haltestelle stand vor mir eine Frau. Das war die Renate. Ich habe sie erst gar nicht erkannt, denn sie war ganz anders angezogen als bei der Arbeit. Sie hatte Jeans an und eine pink-farbene Jacke. Sonst stand niemand an der Haltestelle.
Ich bin aufgestanden und habe mich neben sie gestellt. Aber nicht ganz dicht, sondern ein wenig weiter weg. Hallo Renate, habe ich gesagt. Hallo Arnim, hat sie geantwortet, ich habe dich gar nicht gesehen. Aber das konnte nicht sein, denn es war ja sonst niemand da als nur ich. Ich betrachtete sie so von der Seite. Sie sah viel hübscher aus als im Goldenen Pflug. Ohne Hackbraten, Maultaschen, Bier und ohne das Schwammtuch, mit dem sie immer die Tische abwischt.
Fährst du nach Hause?, habe ich sie gefragt. Aber ich war zu leise. Es kam gerade ein Lastwagen angefahren, der machte einen Heidenlärm. Darum konnte sie mich nicht hören.
Jetzt kam die 68. In den Bus musste Renate einsteigen. Sie sagte Tschüs und stellte sich an die Bustür. Da stieg ein großer Mann aus dem Bus und stieß Renate weg. Sie wollte etwas sagen, aber der Mann schubste sie in Richtung Bank. Er sagte dabei: Du hast doch bestimmt auf mich gewartet. Das konnte aber nicht sein, das hat er nur so gesagt.
Renate hatte Angst. Das konnte ich sehen, denn ich wusste ja, wie sie guckt, wenn sie Guten Abend sagt oder Was willst du denn trinken? Jetzt guckte sie anders.
Ich dachte gar nicht lange nach, sonst hätte ich das bestimmt nicht gemacht, was ich gemacht habe. Ich kam nämlich von hinten und schlug dem Mann die Mütze vom Kopf. Dann riss ich ihn an den Schultern und schrie ihn an: Lass die Renate in Ruhe. Der Mann war so überrascht, dass er seine Mütze vom Boden aufhob und davonging. Er schwankte leicht, aber er sagte nichts mehr. Renate zitterte, weil sie so aufgeregt war. Und ich stand vor Schreck ganz steif da.
Da kam Renate zu mir und umarmte mich. Ihre Haare rochen noch etwas nach Schnitzel und Pommes, aber ich konnte auch ihr Parfüm riechen. Da war es mir auf einmal ganz warm, so nah bei Renate.
Dann hat Renate etwas gemacht: Sie hat mein Gesicht mit beiden Händen genommen. Ich habe sie von ganz nah angesehen. In ihren Brillengläsern spiegelten sich die Lichter von den Autos. Weiß und gelb und rot, das war wie ein Feuerwerk in ihren Augen. Und dann hat sie mich geküsst, auf den Mund. Das war, wie wenn mich gerade ein Engel mit seinen Flügeln berührt. So habe ich das jedenfalls gefühlt. Und Renate auch. Das habe ich in ihren Augen gesehen. Die hat sie nämlich nicht zugemacht beim Küssen.
Dann kam die 43. Das ist mein Bus. Ich nahm die Hand von Renate in meine Hand und sagte: Wir können doch auch den nehmen. Und dann sind wir eingestiegen. Wir haben ganz nah nebeneinandergesessen. Das machen wir jetzt immer so. Ganz nah.
Die Dinge des Lebens
Wir sind von ihnen tagtäglich umgeben, beachten sie meist wenig, behandeln sie oft nachlässig, vergessen sie zuweilen sogar: die Dinge unseres Lebens. Dabei haben doch auch sie ein Schicksal und eine Geschichte. Davon erzähle ich in meiner Serie von den Dingen des Lebens. Nachhören könnt ihr die Beiträge auf meinen Seiten in YouTube, Instagram und Facebook.
Das Ding
Beim Aufräumen habe ich es ganz hinten in einer Schublade gefunden. Es ist weiß und aus Kunststoff, die Form ist kaum zu beschreiben, so unregelmäßig ist sie. Auf der einen Seite rund mit einem kreisrunden Loch, auf der anderen Seite ebenfalls rund, jedoch geschlossen, ein wenig abgewinkelt, und mit einem hohen Rand versehen, dazwischen so etwas wie ein Schacht, halb rund, auf der einen
Seite wiederum ein wenig ausgeschnitten – ach, herrjeh, es fehlen mir die Worte, das Ding so zu beschreiben, wie es wirklich aussieht. Irgendwo geht jemand morgens zur Arbeit, um solche Dinger herzustellen. Er weiß genau, worauf es ankommt. Es wird einen Namen haben, das Ding, und es wird jemandem wichtig sein, der braucht es genau jetzt, das Ding, von dem ich nichts weiß.
Ich erzähle eine Geschichte
hör gut zu
der da geht
die da spricht
was da weht
das Dunkel das Licht
sind und sind nicht
sind nur Hauch und Laut
sind aus Wörtern gebaut
für dich
hör gut zu
ich erzähle eine Geschichte
Das Glas
Da steht das Glas, honiggold schimmert sein Inhalt, Tröpfchen funkeln im schräg einfallenden Licht der Sonne, bevor sie untergeht. Da steht das Glas, einladend, verlockend – doch waren es nicht immer zwei, zwei Gläser? Ihr habt sie zuweilen aneinander klingen lassen – gläserne Glocken des Glücks … Ihr habt sie miteinander klingen lassen, so wie ihr immer miteinander im Einklang wart. So klingt der Klang des Glücks. Aber sagt man nicht auch über Glück und Glas, dass beide zerbrechlich sind? Da steht das Glas, honiggold schimmert sein Inhalt. Ist es halb voll? Ist es halb leer? Falsche Frage – weil es doch immer beides ist zur gleichen Zeit, halb voll und halb leer, wie das Leben selbst.
Mehr Dinge des Lebens findet ihr in der Ablage!
Die Taschenlampe
Ich besitze zwei Taschenlampen, die eine ist defekt und die andere kann ich nicht finden. Ich denke, diejenige, die es nicht mehr tut, könnte wenigstens gut aussehen – altmodisch-nostalgisch oder stylisch-modern oder von mir aus auch kindisch-verrückt. Aber das tut sie nicht, sie ist einfach nur eine Taschenlampe, die nicht funktioniert. Und die andere bleibt verschwunden. Wenn es hell ist, bei Sonnenschein oder Lampenlicht, da habe ich kein Problem mit meinen Taschenlampen, das ist doch einleuchtend. Aber wenn es Nacht ist oder die elektrische Beleuchtung ausfällt oder ich unter dem Schrank nach meinem Lesezeichen schauen will, das ja auch verschwunden ist, dann nehme ich mir vor, unbedingt die Taschenlampe zu suchen. Taschenlampen sucht man am besten, wenn man sie nicht braucht.
Die Stühle
Die Stühle um den Esszimmertisch haben etwas vor, ich spüre es seit Tagen. Ich komme nach Hause, da schweigen sie, stehen im Kreis um den Tisch und schauen mich blöde an, heimlichtuerisch. Eben haben sie noch über mich hergezogen, doch kaum hören sie den Schlüssel im Türschloss, sind sie still, blicken verlegen von einem zum anderen, stehen einfach nur da. Wenn ich mich auf einen von ihnen setze, gibt er den anderen Zeichen, hinter meinem Rücken. Doch ich lasse mich nicht hintergehen, nicht von sechs Esszimmerstühlen. Ich habe ein Auge auf sie, und solange der Tisch sich nicht hineinziehen lässt (er ist aus anderem Holz gemacht, ein einfacher Kerl, der mit allen Beinen fest im Alltag steht), können die Stühle nichts ausrichten. Ich habe den Sessel aus dem Wohnzimmer herangezogen. Da sitze ich nun und beobachte, was geschehen wird.
Die Seife
Ein leuchtender Vormittag am Meer, selbst die Möwen und Sturmtaucher gaben sich gelassen, segelten heiter im flauen Wind. Der Duft von Bergamotte, Lavendel und etwas Unbestimmbaren, Geheimnisvollen schwebte im Zimmer, und immer wenn du an mir vorbeigingst, leichtfüßig, vom Bett zum Schreibtisch, vom Sessel zum Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen, um den Blick einzuatmen, die Bläue des Himmels, das Meer, die Boote – stets wehte dieser Duft hinter dir her wie ein hauchfeiner Schleier, der sich hier, in dem Zimmer mit Aussicht, damals, an diesem leuchtenden Vormittag, aufzulösen drohte und zu verschwinden im Alltäglichen. Ich habe es wiedergefunden, das Aroma des späten Sommers am Meer, der letzten Tage unserer Seligkeit, ganz schwach ist es geworden, und nur wenn ich das Stück Seife in seinem zarten Papier ganz nah an die Nase führe, Bergamotte, Lavendel und etwas, das ich nicht benennen kann, wenn ich die Augen schließe, dann bist du wieder da.

Wieder unter den Lesenden
Ich darf wieder lesen nach der Augen-OP und wonach greife ich zuerst?: Ron Padgett, How to Be Perfect. Den titelgebenden Text möchte ich (in Auszügen und in meiner Übersetzung) mit euch teilen.
So wirst du perfekt
Schlafe ein bisschen.
Gib keine Ratschläge.
(…)
Kümmre dich zuerst um Dinge in deiner Nähe. Räume dein Zimmer auf, bevor du die Welt rettest. Dann rette die Welt.
(…)
Trage bequeme Schuhe.
(…)
Wenn du Hilfe brauchst, bitte darum.
(…)
Sing ab und zu.
(…)
Glaube nicht, dass es Fortschritt gibt. Es gibt ihn nicht.
Geh die Treppe hinauf.
Betreibe keinen Kannibalismus.
(…)
Verwende Colgate-Zahnpasta mit der neuen Tartar Control Formula.
(…)
Sei besonders freundlich zu Fremden.
Sieh dir Schattenpuppenspiele an und stell dir vor, du wärst eine der Figuren. Oder alle.
Bring den Müll raus.
Liebe das Leben.
Bezahle mit passendem Kleingeld.
Wenn auf der Straße geschossen wird, geh nicht in die Nähe des Fensters.
By the way: Ron Padgett, Jahrgang 1942, ist ein US-amerikanischer Dichter, der zur New York School of Poetry gezählt wird. Für den zauberhaften Film Paterson schrieb er 2016 die Gedichte des Busfahrers Paterson und erhielt 2018 die Frost-Medal.
Hier noch eines seiner typisch lakonischen, aber sehr weisen Gedichte. Aus Platzgründen habe ich die Zeilenumbrüche durch „/“ wiedergegeben:
Der Nagel
Wenn man hier einfach nur sitzt,/entspannt,/ausgestreckt,/tot wie/ein Nagel,/der krummgebogen/und in die Maserung/einer Tür/geschlagen wurde,/auf die Müllhalde/gekarrt,/vor einigen/Jahren, wird man/immer schläfriger/und schläfriger beim/Gedanken/an diesen Nagel,/ vergraben im Holz,/ohne Lippen,/die davon erzählen könnten.