Ablage gebrauchter Stücke, zu schade zum Wegwerfen
An diese Seite verschwende ich nicht viel kreative Energie, denn hier findet ihr ganz einfach Sachen, die ich auf den vorderen Seiten durch andere ersetzt habe, die ich aber für euch noch aufbewahren möchte, unsortiert auf einem Stapel oder eben: in der Ablage.
Der Brief
Da war dieses Buch in der Kiste, in die sie die Sachen meiner Mutter gepackt hatten. Es war ein schmaler Band mit Gedichten von Christian Morgenstern, nicht seine skurrilen Galgenlieder, sondern wehmütige Lyrik. Als ich ziellos darin blätterte, fiel ein Briefumschlag heraus, der zwischen den Seiten gesteckt hatte. Er trug eine alte Anschrift meiner Mutter, oben rechts eine rote 12-Pfennig-Briefmarke mit dem Rathaus von Breslau und einen Stempel mit dem Datum 24. Juni 1938. Auf der Rückseite nur die Initiale O.M. Der Brief war ungeöffnet. Er liegt hier vor mir, noch immer verschlossen seit fast neunzig Jahren. Ob ich nicht nachschauen sollte, was er enthält? Das Geheimnis lüften? Ein Geheimnis, das all die Jahre wohl niemand kannte. An der Stelle, wo der Brief verborgen lag, finde ich das Gedicht Der Abend, in dem es am Ende heißt: Mit stiller Fackel steckt er nun/der Sterne treue Kerzen an./Sei ruhig, Herz! Das Dunkel kann/dir nun kein Leid mehr tun.
Der Schlüssel
Wenn sich mit einem beiläufigen, zurückhaltend metallischem Klang das Chaos ins Leben drängt. Die Tür fällt ins Schloss, der Riegel schnappt ein, sperrt zu, sperrt mich aus. Im Bruchteil einer Sekunde. Vorher, nachher. Mein Heim da drinnen, mein Leben hier draußen. Ich taste mich hinter der Forsythie hindurch, über den Kellerrost hinweg. Ich tappe weiter, um die Hausecke bis zum Fenster. Auf dem Tisch steht noch die Tasse mit dem Kaffee, zur Hälfte geleert. Es ist noch kühl, der Kaffee, wenn auch nur noch lauwarm, täte jetzt gut. Von hier draußen sieht das so gemütlich aus: Ach, hab ich’s schön! Da drinnen. Auf dem Sideboard die Schlüssel, drei im Bunde: Haustür, Garage, Briefkasten. Ich möchte einen Wunsch frei haben. Ich möchte durch Wände gehen können. Ich möchte einfach dieses kleine Stück Metall in meiner Hand spüren. Bitte!

„Der Flötenspieler“ ist eine Bronzeskulptur von Walter Wadephul (1901-1968) und steht im Kurpark Wiesbaden.
Flötenspieler im Park
Als der Regen vorüber war,
und das erste Licht einer fernen Sonne
den grauen Spiegel des Weihers berührte,
da hobst du deine Flöte auf.
Sanfter Kuss von schmalen Lippen,
zarter Griff von schmeichelnden Fingern,
stolzer Blick aus lächelnden Augen,
warmer Hauch von duftendem Atem.
Der erste Klang eines fernen Liedes
schwebte durch den dampfenden Park,
blieb wie Spinnweb hängen im Gesträuch
und wie süßer Tau
auf Blättern und Gras.
Kalenderblätter: Mai
Ich fahre nach Berndsmühle, sagte sie und reichte dem Schaffner die Fahrkarte. Schön für Sie, antwortete der Mann tonlos. Ich bin nämlich frisch verliebt. Es war ihm unangenehm, das merkte jeder im Abteil. Doch sie plapperte weiter. Wonnemonat. Sie lachte. Er heißt Jim und ist Cowboy. Da hatte sie die Aufmerksamkeit aller. Ja, und Dichter, er schreibt Gedichte. Kleine Gedichte. Er heißt Jim und ist Cowboy?, fragte die ältere Dame am Fenster. Ja, und Dichter. Der Schaffner verschwand schnell, und das Mädchen zog ein Notizbuch aus dem Rucksack. Da!, sagte sie und zeigte stolz eine Seite herum. Dann las sie vor. Wie die Tiere vor der Tränke … Sie unterbrach sich. Er schreibt aus dem Leben, aber es reimt sich nicht immer. Also … Wie die Tiere vor der Tränke, so schreit mein Herz nach dem klaren Wasser deiner Augen. Sie schaute auf. Alle blickten verlegen aus dem Fenster, wo man nur die Tunnelwand sah. Sie konnten dieses Glück nicht ertragen.
Horrorstroboskop
Horch doch!
Wohl kommt vom Motodrom
forsch Motorchor, so monoton.
Protzt, strotzt, motzt.
Fort, fort:
Frosch, Molch,
Kobold, Strolch,
fort, sofort fort,
sonst droht Tod,
mohnrot vor Ort,
trostlos.
No, no, no!
Lollo kommt!
Go! Go! Go!
Sonor vom Motodrom:
Song von Chrom,
von Ottomotor,
Stromform.
O so flott!
Hot, hot, hot,
Rock’n’Roll, Foxtrott.
No, no, no!
Stopp! Stopp! Stopp!
Motor kocht,
Rostloch –
Schrott!
Weh des Herzens
Geht, Herzen, geht den Weg,
den jedes je geendet,
gen Segen, gen Verderben,
gen Leben, gegen Sterben.
Der West weht, sendet Regen,
dem Feld, der Herde fern den Wegen.
Wer kennt des Herbstes Ernten?
Wer nennt den hell besternten
Engel, der Schwert und Speer weglegt?
Entgeht dem Weltgeschehen –
des Sternenzeltes Kerzen
verbrennen und verwehen.
Sende dem Herrn Gebete,
wenn Seel’ und Herze brennen:
Geht!
Sag an
Sag, wann?
Wart ab!
Wann, sag, wann?
Bald, ach, bald.
Tanzklang schwang sanft an Land.
Bamm-bamm. Cha-cha. Tam-Tam.
Ganz nah Hals an Wang’.
Nahm Arm, nahm Hand,
gabst nach, ganz nah.
Sang. Glanz. Klang. Pracht.
Abstand. Tanz. Anstand. Nacht.
Bamm-bamm. Cha-cha. Tam-Tam.
Halt bang das Band!
Ach was – schlaf sanft!
Wann, sag, wann
an Land, am Strand?
Bald, ach, bald.
Der Handschuh
Wenn es geregnet hat, und dann hört es wieder auf und es scheint die Sonne, dann fahren die Regenschirme alleine weiter im Stadtbus, oder sie lehnen – nass und verknittert – an den Pulten der Stehcafés. Rührender aber ist der Handschuh, den ein mitleidvoller Passant aus dem Straßenschmutz hebt und auf den Vorgartenzaun steckt. Und wer vorbeigeht, der greift in die Manteltasche, ob es wohl nicht der eigne sei. Mit der Zeit bekommt der Handschuh dunkle Streifen über den Rücken, das waren Regen und Schnee. Wer ihn so wiederfände, der schaute schnell weg und ließe ihn stecken, derweil sein Zwilling immer tiefer sinkt in der Kommode. Dann kommt einer vorbei, der dreht sich doch noch einmal um. So einen, denkt er im Weitergehen, (wie seltsam:) genau so einen habe ich auch einmal verloren.
Eine drollige Gesellschaft

Seit meiner Kindheit begleiten mich die drolligen Figuren aus Tove Janssons Büchern über die Mumin-Familie und ihre Freunde.
Die Szenen aus dem Leben der skurrilen Kerle haben mich zu einer Suite für kleines Ensemble inspiriert. Hier stelle ich euch das Musikstück „Fünf kleine Wölkchen“ vor.
Bei Jansson heißt es dazu:
„Die Eierschalen lagen im Hut und fingen an, sich langsam zu verwandeln. Sie behielten ihre weiße Farbe, doch sie wuchsen und wurden weich und flaumig. Fünf kleine runde Wölkchen quollen über die Hutkrempe.“
Der Würfel
Der Würfel rollt über den Tisch, noch ist völlig offen, welche Zahl schließlich oben liegen wird. Wenn er zur Ruhe gekommen ist, ist jede Zahl so wahrscheinlich wie irgendeine andere. Wenn ich den Würfel ein zweites Mal werfe, ist es nicht anders, und das gilt auch für den dritten, den zehnten, den hundertsten, den tausendsten Wurf. Und doch werden nach einer unendlichen Anzahl von Würfen alle sechs Augenzahlen gleich häufig gefallen sein! Wäre der Würfel mit Vernunft begabt, wäre er sich seiner Freiheit, welche Augenzahl er zeigt, völlig sicher, doch aufs Ganze, auf die Unendlichkeit hin gesehen, nützt ihm diese Freiheit nichts. Erfüllen wir nicht auch mit jeder Entscheidung unseres freien Willens einen verborgenen Plan, der uns – ganz ähnlich wie den Würfeln – erst aus der Sicht der Unendlichkeit vollständig offenbart wird? Doch die Unendlichkeit, ja, die Unendlichkeit …
In der Morgendämmerung
Hab‘ ich’s schon mal geschrieben?: Ich mag es, Musik mit Texten zusammenzubringen (es muss auch nicht gleich eine Oper sein). Zu einer meiner musikalischen Miniaturen habe ich ein Gedicht geschrieben, In der Morgendämmerung heißt beides.
Die Musik kommt vom Audio oben, und das ist das Gedicht:
In der Morgendämmerung
Das ist doch nur,
weil die Erde kreiselt,
(vierhundertfünfundsechzig Meter noch was in der Sekunde),
dass ich taumele,
mit bloßen Füßen auf dem Laminat,
dem Licht entgegen, dem neuen Tag,
hin zum Fenster,
vor dem das Heizkraftwerk
im zarten Morgendämmerlicht träumt:
von Wärme, Zuneigung
und einer schönen Gestalt –
eigentlich wie wir alle.
Die Tapete
Sie wollte sie unbedingt. Vielfarbige unförmige Flächen und Linien, wie zufällig hingespritzt auf die Wand, die einmal so schön weiß war, rein und unbefleckt. Ihre Heimtücke und boshafte Energie habe ich der Tapete gleich angesehen. Sie war verdammt schwer zu verlegen wegen der Anschlüsse, ich musste manchmal einen halben Meter abschneiden, weil sonst die nächste Bahn nicht gepasst hätte. Und anschließend war ich fast blind von den wirren Farben und Formen. Wir haben sie im Schlafzimmer angebracht. Ich mache das Licht aus und schließe die Augen. Dann wiederhole ich im Stillen das Gedicht, das ich für sie auf die Wand geschrieben habe noch vor der ersten Bahn.
Das Lesezeichen
Ich vermisse mein Lesezeichen. Es ist aus silbrig glänzendem Metall und hat ein violettes Bändchen. An dem habe ich das Lesezeichen oft gehalten, während ich las, und habe es pendeln lassen, und meine Frau sagte dann: Kannst du nicht mal dein Lesezeichen in Ruhe lassen? Zunächst habe ich ein wenig unsystematisch gesucht, dann bin ich dazu übergegangen, alle möglichen Orte in meiner Wohnung abzusuchen, danach die unmöglichen. Vergebens – es bleibt verschwunden. Selbstverständlich ist es nicht wirklich weg, denn es gibt das Lesezeichen nach wie vor, seine Existenz steht außer Frage. Und es muss sich in diesen Räumen befinden, da es sich nicht selbst bewegen kann. Da es an diesem Ort, meiner Wohnung, überall sein kann, während ich es nirgends sehe, bleibt es verborgen in seiner Allgegenwart. Sein oder Nichtsein: Es ist das philosophischste Lesezeichen des Universums.