Das Chaos der Zufälle des Lebens
Herbst 1961: Der Fallschirmsprung über der Kakteenwüste von Arizona war der größte Traum von Laurens Baltruscheit Iversens Großvater. Nachdem die Sache schiefgegangen ist, muss der Enkel sehen, was er mit Opas Leiche anfängt, mit dessen jugendlicher Freundin Taleesha, dem alten Rum und dem Wohnwagen, mit Dorothy, die ihm bei einem Tornado in Iowa zufliegt, und ihrem Freund Hunk, der alten Vogelscheuche. Sie alle wird er in New York los, doch das Schiff, von dem er annimmt, es bringt ihn nach Dänemark zurück (oder zumindest in die Richtung), ist unbestreitbar in andere Gefilde unterwegs.
Eine weltweit agierende Mariachiband, fliegender Kartoffelsalat, ein Mann, der über den Lake Michigan schreitet, die endgültige Begegnung mit einem Eisbären, eine Flucht durch den Urwald, ein westfälischer Matrosenhintern in Öl, eine musikalische Gespensterfamilie, der Ritt einer Greisin auf der Schildkröte, fliegende Pinguine und drei frivole Cousinen aus Punta Arenas, ein Tod, ein neues Leben und die Liebe zu Suleika – dies alles und noch viel mehr begegnet Laurens Baltruscheit Iversen auf seiner unfreiwilligen Reise. Das Chaos der Zufälle des Lebens: Man kann darin den Sinn suchen oder es einfach als schräge Geschichte lesen, die zuweilen böse enden kann.
Lese-Schnipsel
Opas Fallschirm öffnete sich nicht, wehte nur wie ein fadenscheiniges Fähnchen hinter ihm her. „Das war’s“, dachte ich laut, aber wenigstens hatte ich noch Funkkontakt.
„Was ist nun mit dem Wohnwagen?“ brüllte ich gegen den Wind an, der seit Tagen von Norden hereinblies.
„Kannste haben“, rauschte es aus dem Funkgerät, und Opas Stimme klang wie die eines Stummfilmschauspielers, der zum ersten Mal Gedichte über den Volksempfänger verbreitet.
„Und der Zapaca-Rum?“
„Kannste haben.“ Die Flasche war genau so alt wie Opa, und wenn das hier so weiterging, dann würde sie morgen erstmals älter sein als er.
„Und Taleesha?“ schrie ich völlig panisch ins Mikrofon, denn jetzt konnte ich schon die angstvollen Fürze hören, die der alte Mann auf dem Weg nach unten fliegen ließ.
„Kannste“, war das letzte bedeutungsschwere Wort, das mein Opa von sich gab.
(…)
In diesem Augenblick erfasste ihn eine Bö, und er wurde noch einmal in die Höhe gerissen. „Juhuu“, jubelte er, während ihn der kalte Morgenwind über die Grenze nach La Buena Vista de los Ángeles de la Madre de Dios trieb.
Ich kannte den Ort, hatte mich dort vor der Kirche gleichen Namens ein paar Tage zuvor ausgekotzt, und alle Einwohner hatten mir dabei zugesehen. Das ist der einzige Ort auf der Welt, der weniger Einwohner hat als Buchstaben im Ortsnamen, behaupte ich jetzt mal so. Ich hätte Opa dieselbe Aufmerksamkeit für seinen Touch-down gewünscht, aber da war nur ein Tohono O’Odham-Indianer, der sich gerade zur Entleerung seines Darms hinter einen Chaparralbusch zurückgezogen hatte, während ihm Opa vor die Füße fiel.
(…)
Die Piet Heyn fuhr nicht nach Rotterdam. Ich bin kein Seemann und auf dem Atlantik gibt es auch keine Straßenschilder, aber mir war schnell klar: Die Piet Heyn fuhr nicht nach Rotterdam, nicht nach Antwerpen und nicht nach Hamburg, auch nicht nach Southampton oder Le Havre, sie fuhr überhaupt nicht nach Osten. Selbst wenn man wie ich die meiste Zeit unter Deck verbringen musste, sieht man irgendwann mal die Sonne an Backbord aufgehen und an Steuerbord untergehen. Wir fuhren also geradewegs nach Süden. Ich deutete auf den Fußboden und fragte: „Nach Rotterdam?“ gerade so als ob das der Bus von Vejlby nach Skaade sei und Tante Liv mich an der Haltestelle Fredens Kirkegaard erwartete. Der Seemann schaute mich verwirrt an und zuckte mit den Schultern. „Donnoh“, sagte er und war schon verschwunden.
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Als ich die Augen wieder öffnete, hatte ich immer noch die Hände in die Bettkante gekrallt, aus Angst, ich könnte hinunterstürzen, und ich schaute auf den Bettvorleger aus gebrochenem Weiß und die Pfütze aus erbrochenem Rosa. Vom Standpunkt des Künstlers ein inspirierender Anblick, wenn das Alphorn in meinem Kopf nur nicht so gedröhnt und es in meinem Zimmer nicht so überwältigend gestunken hätte. Ich wankte zum Badezimmer, um mich selbst und den Bettvorleger in unseren jeweiligen Originalzustand zu versetzen, was mir beim Bettvorleger ganz gut gelang.
„Kaffee, schwarz, mit Zitrone“, erklärte Rosalía, als sie mir die Tasse in die Hand drückte, und ich war gerührt von so viel Fürsorge. Den Vormittag verbrachte ich im Dämmer der Bibliothek, las etwa ein Dutzend Mal den ersten Absatz von Schillers Über Anmut und Würde, schlief kurz ein, den Kopf auf einen Stapel der unvollständigen Jahrgänge 1953/54 von Le Monde Diplomatique gebettet, und wachte erfrischt auf, als ich Stimmen in der Eingangshalle hörte.
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Erst die gute oder erst die schlechte Nachricht?
Dort unten war tatsächlich Land aufgetaucht, dem sich der Ballon nun näherte, aus zahlreichen skurril geformten Fjorden stiegen Felsen auf, die sich hinter der Küste zu einem veritablen Hochgebirge auftürmten. Außer einem schmalen Streifen direkt entlang des Wassers und mit zunehmender Höhe war das Land mit Eis und Schnee bedeckt, einzelne Schollen trieben auch im Meer. An einer der Buchten konnte ich Häuser erkennen, zwei Schiffe lagen im Fjord. Ich hielt den Atem an, dass doch bloß nicht der Wind drehen und mich aufs Meer zurücktreiben möge. Doch ich segelte direkt auf diesen Flecken zu durch schneidend kalte Luft, in die sich nach und nach immer mehr Schneeflocken mischten, milchiges Licht tauchte die Landschaft in eine beklemmende Trübnis. Wo war jetzt eigentlich noch mal die gute Nachricht?
Egal, ich musste da runter, am besten hinter dem mit Eisschollen gespickten Meer und noch vor den Gletschern und Schneefeldern der Berge.
(…)